Geschichten, die das Leben tippt ...
Hier zur Diskussion noch einen älteren Artikel über online-Tagebücher.
Geschichten, die das Leben tippt ...
Tagtäglich schreiben Tausende von Menschen ihre Erlebnisse des Tages, ihre Sorgen ihre Ängste in ihr online-Tagebuch ins Netz, ganz öffentlich, zum Mitlesen. Ob die Tagebücher echt sind, bleibt unklar, und doch entsteht eine Art Interaktion zwischen Schreiber und Leser.
Um es gleich vorweg zu nehmen, Tagebuchschreiben ist eine intime Sache. So intim, dass es im Internet Abertausende davon gibt, öffentlich, zum Mitlesen quasi. Unvorstellbar? Keineswegs. Ein bisschen Schüssellochmentalität gepaart mit ein bisschen Daily-Soap-Feeling; im Netz entstehen eigene Charaktere, getrieben von den verschiedensten Wunschvorstellungen und Selbstdarstellungen.
Priscilla zum Beispiel schreibt in ihr online-Tagebuch: 20.4.1998: «Er hat mich verlassen. Fort ist er. Auf unbekannte Frist verreist sozusagen. Was das bedeutet, kann ich mir noch gar nicht richtig vorstellen. Ich hatte mich schon so an ihn gewöhnt. Es war schön, heimzukommen und zu wissen: Er ist da. Das gab mir Trost und Sicherheit. Er war ein ruhender Pol in meinem sonst eher gehetzten Alltag. Und eine Art Sinnerfüllung für mein Leben - so seltsam das vielleicht klingen mag -, denn weil er da war, hatte ich immer etwas zu tun. Auch wenn es sich dabei manchmal wohl eher um Beschäftigungstherapie handelte?» Dies war der Anfang eines der bekannteren online-Tagebücher im Netz: Priscillas Tagebuch. Eine öffentliche aktuelle Lebensgeschichte, die quasi als «Mit-Lese-Spass» angeboten wurde. Priscilla hatte Erfolg, und viele nach ihr, denn längst sind die verschiedensten online-Tagebücher im Netz zu finden, und sie haben ihre Leserschaft.
Ganze Tagebuch-Portale sind aus dem virtuellen Nichts geschossen, Web-Ringe, die oftmals einigen tausend Mitgliedern ermöglichen, ihre Tagebücher online einzutippen. Das Portal «diary4u.de» beispielsweise offeriert flapsig: «Bei uns könnt ihr alles machen, was ihr von einem Tagebuch gewohnt seid, und noch viel mehr...» Hier kann man sich aussuchen, welche Einträge der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, man kann seine Einträge auch mit Bildern versehen. Die Beiträge seines «Lieblingsautors» können abonniert werden. Daneben prangen auf dem Portal Hitlisten der eingegangenen Beiträge. Die beliebtesten Tagebucheinträge werden in eine Art Hit-Parade gezwängt, ein online-Tagebuch-Rund-um-Service quasi...
Private Öffentlichkeit
Aber auch auf so genannten privaten Homepages finden sich verschiedenste online-Tagebücher. Da wäre beispielsweise das Tagebuch von Werner Bradl. Er schreibt unter dem Titel «Geschichte(n), die das Leben schreibt» auf seiner Page seinen Tagesablauf in all seiner Banalität. Seine Suchtprobleme, die Kollegen in der Werkstatt, seine Frau, seinen Sohn und seinen Hund «Biene». Oder ein Reisetagebuch: «15 000 Meilen mit dem Motorrad von San Diego bis nach Alaska», das Töff-Tagebuch von Sonja John und Ernst Tollknäpper, ein online-Tagebuch, in dem die Ferienfotos der Reise gleich mitverlinkt wurden. Und dann gibt es noch «schnuppel» und «tricky» auf dem Portal «diary4u.de». Schnuppel hat Liebeskummer, und «tricky» beschreibt einen Besuch bei der Telekom mit Freundin «simmi». Alles ohne Korrekturlesen versteht sich. Für manche sicherlich eine regelrechte Horrorvorstellung: Werden doch Tagebücher in einem stillen Moment mit Tinte und auf schönem Papier geschrieben. Schliesslich geht das Privatleben niemanden etwas an. Tagebücher bedeuten innere Einkehr, Reflexion der Ereignisse des Tages, eigene Gedanken sortieren. Ganz anders im Netz.
Auf der Suche nach Anteilnahme
Sicherlich ist genau das Internet der geeignete Ort, um ein Tagebuch vielleicht paradoxerweise als Kommunikationsmittel mit der Aussenwelt einzusetzen. Da spielen zum einen die technischen Möglichkeiten, die das Schreiben im Web mit sich bringt wie Einbauen von Bildern, Tönen, Verlinkungen und Querverweisen, eine grosse Rolle. Und das Internet bietet Möglichkeiten der Interaktion zwischen Tagebuch-Schreiber und den Lesern. Warum sonst ins Netz gehen? Ausser vielleicht, dass man ortsunabhängig schreiben kann, beispielsweise für ein Reisetagebuch. Sicherlich darf man auch den therapeutischen Aspekt des Tagebuchschreibens im Sinne einer eigenen Problembewältigung nicht aus den Augen verlieren, nur, ist die öffentliche Einmischung da erwünscht? Was erhofft man sich denn von «seinen» Leserinnen und Lesern eigentlich? Anteilnahme? Erfahrungsaustausch oder gar Problemlösungen?
Die Schreiber geben da die verschiedensten Gründe an, angefangen beim «hatte Lust dazu» über «Computer faszinieren mich» bis hin zu «musste es mir von der Seele schreiben» oder «ich schreib halt gerne». Hand aufs Herz, das klingt alles nicht sehr überzeugend. Sicherlich mag es zutreffen, dass man das online-Tagebuchschreiben auch einfach als Fingerübung sehen kann, als literarische Test-Bühne, vielleicht sogar, als «gucken wie man ankommt»; als Art der Selbstbestätigung durch das Erschreiben der eigenen Geschichte in Real-Time quasi.
Nur sind die im Netz gelesenen Tagebücher überhaupt echt? Oder ist Priscilla konstruiert? Ihr Tagebuch eine Farce? Im virtuellen Leben trifft man sie auf jeden Fall nicht mehr. Sie hat nach eigenen Worten das Internet ausgereizt und hat sich wieder der Realität zugekehrt, der «realen Realität». Ihr Tagebuch ist hingegen immer noch online, als Erinnerung an eine schöne Zeit, die sie nicht missen möchte... So ihre letzten virtuellen Worte.
Copyright 2001 - JuM - Basler Zeitung
Geschichten, die das Leben tippt ...
Tagtäglich schreiben Tausende von Menschen ihre Erlebnisse des Tages, ihre Sorgen ihre Ängste in ihr online-Tagebuch ins Netz, ganz öffentlich, zum Mitlesen. Ob die Tagebücher echt sind, bleibt unklar, und doch entsteht eine Art Interaktion zwischen Schreiber und Leser.
Um es gleich vorweg zu nehmen, Tagebuchschreiben ist eine intime Sache. So intim, dass es im Internet Abertausende davon gibt, öffentlich, zum Mitlesen quasi. Unvorstellbar? Keineswegs. Ein bisschen Schüssellochmentalität gepaart mit ein bisschen Daily-Soap-Feeling; im Netz entstehen eigene Charaktere, getrieben von den verschiedensten Wunschvorstellungen und Selbstdarstellungen.
Priscilla zum Beispiel schreibt in ihr online-Tagebuch: 20.4.1998: «Er hat mich verlassen. Fort ist er. Auf unbekannte Frist verreist sozusagen. Was das bedeutet, kann ich mir noch gar nicht richtig vorstellen. Ich hatte mich schon so an ihn gewöhnt. Es war schön, heimzukommen und zu wissen: Er ist da. Das gab mir Trost und Sicherheit. Er war ein ruhender Pol in meinem sonst eher gehetzten Alltag. Und eine Art Sinnerfüllung für mein Leben - so seltsam das vielleicht klingen mag -, denn weil er da war, hatte ich immer etwas zu tun. Auch wenn es sich dabei manchmal wohl eher um Beschäftigungstherapie handelte?» Dies war der Anfang eines der bekannteren online-Tagebücher im Netz: Priscillas Tagebuch. Eine öffentliche aktuelle Lebensgeschichte, die quasi als «Mit-Lese-Spass» angeboten wurde. Priscilla hatte Erfolg, und viele nach ihr, denn längst sind die verschiedensten online-Tagebücher im Netz zu finden, und sie haben ihre Leserschaft.
Ganze Tagebuch-Portale sind aus dem virtuellen Nichts geschossen, Web-Ringe, die oftmals einigen tausend Mitgliedern ermöglichen, ihre Tagebücher online einzutippen. Das Portal «diary4u.de» beispielsweise offeriert flapsig: «Bei uns könnt ihr alles machen, was ihr von einem Tagebuch gewohnt seid, und noch viel mehr...» Hier kann man sich aussuchen, welche Einträge der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, man kann seine Einträge auch mit Bildern versehen. Die Beiträge seines «Lieblingsautors» können abonniert werden. Daneben prangen auf dem Portal Hitlisten der eingegangenen Beiträge. Die beliebtesten Tagebucheinträge werden in eine Art Hit-Parade gezwängt, ein online-Tagebuch-Rund-um-Service quasi...
Private Öffentlichkeit
Aber auch auf so genannten privaten Homepages finden sich verschiedenste online-Tagebücher. Da wäre beispielsweise das Tagebuch von Werner Bradl. Er schreibt unter dem Titel «Geschichte(n), die das Leben schreibt» auf seiner Page seinen Tagesablauf in all seiner Banalität. Seine Suchtprobleme, die Kollegen in der Werkstatt, seine Frau, seinen Sohn und seinen Hund «Biene». Oder ein Reisetagebuch: «15 000 Meilen mit dem Motorrad von San Diego bis nach Alaska», das Töff-Tagebuch von Sonja John und Ernst Tollknäpper, ein online-Tagebuch, in dem die Ferienfotos der Reise gleich mitverlinkt wurden. Und dann gibt es noch «schnuppel» und «tricky» auf dem Portal «diary4u.de». Schnuppel hat Liebeskummer, und «tricky» beschreibt einen Besuch bei der Telekom mit Freundin «simmi». Alles ohne Korrekturlesen versteht sich. Für manche sicherlich eine regelrechte Horrorvorstellung: Werden doch Tagebücher in einem stillen Moment mit Tinte und auf schönem Papier geschrieben. Schliesslich geht das Privatleben niemanden etwas an. Tagebücher bedeuten innere Einkehr, Reflexion der Ereignisse des Tages, eigene Gedanken sortieren. Ganz anders im Netz.
Auf der Suche nach Anteilnahme
Sicherlich ist genau das Internet der geeignete Ort, um ein Tagebuch vielleicht paradoxerweise als Kommunikationsmittel mit der Aussenwelt einzusetzen. Da spielen zum einen die technischen Möglichkeiten, die das Schreiben im Web mit sich bringt wie Einbauen von Bildern, Tönen, Verlinkungen und Querverweisen, eine grosse Rolle. Und das Internet bietet Möglichkeiten der Interaktion zwischen Tagebuch-Schreiber und den Lesern. Warum sonst ins Netz gehen? Ausser vielleicht, dass man ortsunabhängig schreiben kann, beispielsweise für ein Reisetagebuch. Sicherlich darf man auch den therapeutischen Aspekt des Tagebuchschreibens im Sinne einer eigenen Problembewältigung nicht aus den Augen verlieren, nur, ist die öffentliche Einmischung da erwünscht? Was erhofft man sich denn von «seinen» Leserinnen und Lesern eigentlich? Anteilnahme? Erfahrungsaustausch oder gar Problemlösungen?
Die Schreiber geben da die verschiedensten Gründe an, angefangen beim «hatte Lust dazu» über «Computer faszinieren mich» bis hin zu «musste es mir von der Seele schreiben» oder «ich schreib halt gerne». Hand aufs Herz, das klingt alles nicht sehr überzeugend. Sicherlich mag es zutreffen, dass man das online-Tagebuchschreiben auch einfach als Fingerübung sehen kann, als literarische Test-Bühne, vielleicht sogar, als «gucken wie man ankommt»; als Art der Selbstbestätigung durch das Erschreiben der eigenen Geschichte in Real-Time quasi.
Nur sind die im Netz gelesenen Tagebücher überhaupt echt? Oder ist Priscilla konstruiert? Ihr Tagebuch eine Farce? Im virtuellen Leben trifft man sie auf jeden Fall nicht mehr. Sie hat nach eigenen Worten das Internet ausgereizt und hat sich wieder der Realität zugekehrt, der «realen Realität». Ihr Tagebuch ist hingegen immer noch online, als Erinnerung an eine schöne Zeit, die sie nicht missen möchte... So ihre letzten virtuellen Worte.
Copyright 2001 - JuM - Basler Zeitung
Cyberwriter - 7. Feb, 18:26 - Presse
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